Ingenieurskunst reloaded
Wenn ich die IAA Mobility 2023 mit einem Wort beschreiben müsste, dann wäre das: Transformation! Nicht nur, dass sich die Messe rasant wandelt – weg von einer reinen Auto-Show hin zu einem Event, das allen möglichen Mobility-Aspekte eine Plattform bieten will. Anfang September war in München auch unmittelbar zu erleben, wie sehr sich die Automotive-Branche selbst verändert.
Mobile Zukunft: Elektrisch und digital
So stellten etliche OEMs ambitionierte Electric-Vehicle-Konzepte (EV) vor, die richtig Lust aufs Fahren machen. Porsche beispielsweise zeigte sein atemberaubendes Hypercar Mission X, Mercedes präsentierte erstmals die Concept CLA Class und BWM machte die Besucherinnen und Besucher mit der Neuen Klasse bekannt. Neben diesen E-Mobility-Visionen gab es reichlich elektrisch angetriebene Modelle zu sehen, die schon heute oder in absehbarer Zeit bei den Händlern stehen.
Und noch etwas hatten viele Fahrzeuge auf der IAA Mobility gemeinsam: Sie sind umfassend digitalisiert und entsprechen ziemlich genau dem, was mittlerweile als Software-defined Vehicles (SDV) bezeichnet wird.
Chinesische Hersteller im Fokus
Elektrische Antriebe und eine Menge Software – in München waren die beiden zentralen Aspekte der Automotive-Transformation auf Produktebene nicht zu übersehen. Ebenso wenig zu übersehen war, wie sehr diese Entwicklung die Marktebene beeinflusst. In diesem Jahr waren deutlich mehr chinesische Hersteller auf der IAA Mobility als jemals zuvor. Und zwar nicht nur große Player wie beispielsweise BYD, sondern auch kleinere und bei uns eher unbekannte OEMs wie Leapmotor und XEV.
Sie alle hatten Fahrzeuge mitgebracht, die durchaus konkurrenzfähig sind. Wie konkurrenzfähig, macht unsere aktuelle Mobility-Studie transparent, die im Oktober 2023 erscheinen wird. Eine Zahl vorab: Knapp 50 Prozent der Konsumentinnen und Konsumenten aus Europa können sich vorstellen, das Fahrzeug eines chinesischen Herstellers zu kaufen.
Vorsprung bei Elektrifizierung und Digitalisierung
Dass chinesische OEMs zunehmend eine Rolle spielen, hat verschiedene Gründe: Ihre Autos erreichen mittlerweile in Sachen Verarbeitung und Design ein Niveau, das an das Niveau von europäischen und amerikanischen Fahrzeugen heranreicht. Wobei die Formen manchmal für hiesige Konsumentinnen und Konsumenten etwas gewöhnungsbedürftig sind und manchmal sehr an bekannte Modelle erinnern.
Aber: All das ist okay. Viel, viel mehr als nur okay sind die meisten der chinesischen Fahrzeuge mit Blick auf die Elektrifizierung und die Digitalisierung. Kaum ein westlicher OEM kann es in Bezug auf diese beiden für die Zukunft so entscheidenden Aspekte mit den Wettbewerbern aus China aufnehmen.
Nicht nachlassen und kulturell öffnen
War es das also für die Automobilindustrie in Europa und den USA? Wer die Berichterstattung der vergangenen Wochen verfolgt, muss diesen Eindruck jedenfalls gewinnen. Ich sehe das anders: Es stimmt zwar, dass die etablierten Hersteller sich etwas mehr Zeit gelassen haben. Das auch, weil sie anders als viele der neuen Player aus China nicht auf der grünen Wiese starten konnten.
Die meisten der westlichen OEMs haben sich aber längst auf den Weg gemacht und arbeiten intensiv daran, den Abstand zu verringern. Jetzt wird darauf ankommen, weder bei der Elektrifizierung noch bei der Digitalisierung nachzulassen, wenn sich die ersten Erfolge einstellen. Und: Gerade hinsichtlich der Gestaltung der Infotainment-Systeme müssen die europäischen und amerikanischen Hersteller bereit sein, sich kulturell zu öffnen und auf die Vorstellungen von chinesischen Kundinnen und Kunden einzulassen. Auch wenn das heißt, Autos mit Karaoke-tauglichen Mikrofonen und entsprechender Software auszustatten.
Ingenieurskunst bleibt USP
Gleichzeitig gilt es, die Stärken der Vergangenheit zu bewahren und ihnen auch in Zukunft einen hohen Wert beizumessen. Autos bleiben physische Produkte, in denen sich Menschen auf jeden Fall sicher und wohl fühlen wollen – häufig außerdem Spaß am Fahren haben möchten.
Die Ingenieurskunst, für die europäische und besonders deutsche Hersteller weltweit bekannt sind und geschätzt werden, macht auch künftig einen Unterschied! Das ist nicht nur eine vage Hoffnung. Das ist eine Tatsache – wie unsere Mobility-Studie zeigt: Die Erwartungen an die herkömmlichen Hardwareeigenschaften sind bei den Kundinnen und Kunden weltweit extrem hoch. Wenn westliche Hersteller auch künftig hierfür das Maß aller Dinge bleiben und gleichzeitig bei der Elektrifizierung und der Digitalisierung den Abstand verringern, dann spielen sie auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten eine dominante Rolle auf dem Automotive-Markt.