Fahrbericht Porsche 911 Carrera (992): Basis-Elfer überhaupt nicht Basis
Bis knapp über 7.000 Umdrehungen dreht er – der ganz typische Boxer-Sound dringt so echt und ungefiltert in den Innenraum, dass man in jeder Einfädelspur permanent durchladen will. Dumpf giert der Porsche 911 Carrera der 992-Generation nach Drehzahl und brüllt zwar früher nach dem Gangwechsel als sein 991-Saug-Vorgänger, vermittelt aber gefühlt ein noch höheres Maß an GT-Atmosphäre. Gleichwohl kann der Basis-911 auch super komfortabel – und zeigte damit im Fahrbericht seine Fähigkeiten als treuer Begleiter für die Langstrecke. Und er bewies: „Basis“ ist nicht die richtige Bezeichnung für dieses technische Meisterwerk.
Neuer 911 als Alltags-Supersportler
Eigentlich hat man mit dem neuen Carrera nicht nur einen Sportwagen. Schon auf den ersten Metern spürt man, dass er eher das Attribut „Super“ verkörpert – aber eben mit den Fähigkeiten eines Alltagsautos kombiniert.
Ok, von den typischen Bierkisten gehen mit viel Geschick vielleicht vier in das Auto – eine in den Kofferraum mit bescheidenen 132 Litern Fassungsvermögen und drei in den Innenraum. Aber ganz ehrlich: Auch damit kann man eine kleine Sause veranstalten.
Galerie: Porsche 911 Carrera (992) im Test
Die größte Sause ist ohnehin das Fahren im Alltag. Bewundernswert ist nicht nur seine Fahrdynamik oder sein Spagat zwischen extremer Sportlichkeit und absolut langstreckentauglichem Komfort; seine einfache Handhabung und – zum Beispiel – seine enorm gute Übersichtlichkeit machen ihn zu einem Alltags-Auto. Besser: Zu einem Sportwagen, dass jeder alltäglichen Herausforderung gewappnet ist. Das ist zwar keine Neuheit, weil diese Attribute einen 911 seit jeher auszeichneten, jedoch immer wieder erwähnenswert, weil man damit einfach nicht rechnet.
Ich bin auf der Rückbank mehrerer 911-Generationen aufgewachsen. Wenn wir zu Dritt als Familie in den ein- oder sogar anderthalb-wöchigen Urlaub gefahren sind – mit drei Fahrrädern und entsprechend Gepäck – hat das meine Mutter immer unterbekommen. Wir transportierten sogar einen anderthalb Meter langen und dementsprechend fülligen Hasenkäfig in einem 993 Targa. Geht alles. Und das sogar relativ gut. Auch wenn man es erst nicht für möglich hält.
Und mit der jetzigen 992-Generation kann man sogar auf Bordsteinen parken (Video oben). Dank optionalem Liftsystem kann die Vorderachse auf Knopfdruck binnen 4 Sekunden um rund 40 Millimeter angehoben werden. So bleibt kaum eine Bordsteinkante ein Hindernis.
Und diese Eigenschaften sind es, die den Unterschied ausmachen und die einen 911 bis hin zur Turbo-Version beispielsweise von einem McLaren unterscheiden. Beides sind Performance-orientierte Fahrzeuge, aber ein McLaren ist eben kein alltagsorientiertes Automobil. Auch wenn seine Technologie, seine Form und seine Fahrdynamik atemberaubend sind. Und ja, auch er verfügt über ein Liftsystem. Aber ein Porsche 911 bleibt eben ein Porsche 911. Ein Kindheitstraum, Bildmotiv tausender Poster und Bildschirmhintergründe – etwas Vertrautes eben. Diese Bindung – das sei vorweggenommen – konnte ich beim McLaren 720S Spider einfach nicht spüren.
Basis-911 alles andere als Basis
Jedem, dem man sagen würde: „Ach, das ist nur ein Basis-Elfer“, wäre völlig verwirrt. Basis? Mitnichten. Da steckt schon ganz schön viel Performance drin. 385 PS, 450 Nm Drehmoment, 4,0 Sekunden von 0 auf 100 Km/h klingen auch nicht so wirklich nach Basis.
Vor zwei Jahrzehnten hatte die leistungstechnische Speerspitze der 911-Baureihe – der 911 Turbo (996) – nur geringfügig mehr Leistung. Damals dachte man, man müsste einen Sonderführerschein für derartige Waffen im Straßenverkehr machen. Und heute hat diese Leistung ein „Einstiegs-911“. Das ist schon sehr krass.
Das Interieur des neuen 911 Carrera ist besonders
Schaut man sich derzeit in der Automobilindustrie um, findet man eigentlich immer das gleiche: Austauschbare Cockpits, jedes Auto fährt in seiner Klasse irgendwie gleich und irgendwie fehlt die echte Individualität.
Das Interieur des Porsche 911 – ganz zu schweigen vom Exterieur – spielt hier in einer anderen Liga. Klar, sein Grundpreis von rund 105.000 Euro tut es auch, aber diese Liebe zum Detail, diese klaren Strukturen und diese klare Bedienstruktur und Interaktion mit der digitalen Welt, ist besonders. Und zaubert einem als Autojournalisten, der dann doch in vielen Autos sitzt, wieder frische Gedanken in’s Zentrum des Denkens und Handelns.
Aber klar, auch hier gibt es Elemente, die mir nicht so wirklich passen. So ist das zum Beispiel die Haptik des kleinen Wählhebels in der Mittelkonsole oder die eingeschränkte Sichtbarkeit der äußeren digitalen Anzeigen hinter dem Lenkrad, weil diese vom Lenkradkranz verdeckt werden. Unverständlich, wie so etwas passieren kann. Aber irgendwie sieht man darüber hinweg. Ob man das allerdings auch noch tut, wenn man seinen 911 länger als zwei Wochen im Alltag bewegt, weiß ich nicht.
Alle Details und weiteren Ausführungen zum Interieur lesen Sie hier:
Fahrdynamisch fast zu perfekt
Diese Diskussion stellt sich ja – vor allem bei Porsche – immer wieder: Ist ein 911 mittlerweile zu perfekt? Alle Ecken und Kanten sind abgeschliffen, alle bissigen Charakterzüge – mitunter durch die Elektronik – gezähmt. Den reinen Hinterantrieb spürt man freilich, jedoch ist die Traktion so enorm hoch, dass ein Ausbrechen des Hinterteils bei milden Temperaturen und auf trockener Straße tatsächlich eine große Herausforderung ist. Diese bissigen Charaktereigenschaften sind dann wohl nur noch den GT-Modellen vorbehalten. Und der erste – und wichtigste davon – der 911 GT3 kommt ja bald.
Wenn man nach dem Volltanken einsteigt und vorher normal gefahren ist, kann es passieren, dass knapp 1.000 Kilometer auf der Restreichweitenanzeige stehen. Und das ist für einen (Super)Sportwagen echt phänomenal.
Klar: ohne die optionale 90-Liter-Tank-Option geht das nicht. Aber trotzdem ermöglicht es einem, mit diesem Fahrzeug – zumindest in den Träumen – bis an das Ende der Welt zu fahren. Und das ohne allzu häufiges Nachtanken. Gran Turismo kann er also auch.
Fazit zum neuen 911 Carrera
Für rund 105.000 Euro – bzw. 130.000 Euro für einen „schönen“ 911 Carrera der achten Generation – bekommt man ein eindrucksvoll geschnürtes Paket an Performance, Dynamik, Technik, Digitalisierung und Optik. Wichtig dabei: Es gibt nicht alle (Performance-)Optionen, wie beispielsweise Allradlenkung oder PDCC für den „normalen“ Carrera.
Auch beim normalen 911 Carrera gilt wieder, dass ich nur einen Bruchteil seiner gesamten Komposition hier darstellen kann. Das Auto bleibt Faszination – und ist trotzdem nahbar. Irgendwie. Nicht abgehoben und zugleich sympathisch.
Bewertung Porsche 911 Carrera (992) | |
Optischer Eindruck | +++++ |
Qualität Karosserie | +++++ |
Lackqualität Karosserie | +++++ |
Qualität im Interieur | ++++ |
Sitzkomfort Cockpit | ++++ |
Sitzkomfort Fonds | ++ |
Digitales Bedienkonzept | +++++ |
Raumangebot | ++++ |
Innenraumgeräusch / Dämmung | ++++ |
Lenkung | +++++ |
Spurtreue | +++++ |
Fahrwerk | +++++ |
Motor | ++++ |
Getriebeabstimmung | +++++ |
Innovation | ++++ |
Preis | +++ |
Gesamteindruck | +++++ |
+++++ = Maximum |